AUSBLICK AUF DAS SELBST: FENSTER UND BILDRAUM. EINE ENTDECKUNG IM FRÜHWERK VON PABLO PICASSO

[Auszug]

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Sehr geehrte Damen und Herren,

 

da ich als Künstlerin und nicht als Wissenschaftlerin zu Ihnen spreche, möchte ich die Schwerpunkte meiner Entdeckung mit einer mehr erlebnishaften Schilderung einleiten, bevor ich Ihnen die zentralen Themen vorstelle.

Im Frühling 2011 reiste ich nach Barcelona und besuchte während des Aufenthalts und ohne bestimmten Anlass das Picasso Museum. Ich erinnere mich, dass einige Räume durch die damalige Präsentation in abgedunkelten Wandfarben und spotartiger Beleuchtung einen höhlenhaften Eindruck auf mich machten, der meine Wahrnehmung konzentrierte.

Die engen, betriebsamen Gassen des „Barrio Gotico“ – die das Museum umgebende Altstadt – waren genauso fern wie die gleißende Sonne und das nahe gelegenen Meer.

In dem Geschiebe und Gedränge der gut besuchten Säle gab es Anlass zu etlichen inspirierenden Beobachtungen, sie öffneten meinen Geist in vielerlei Hinsicht, es entstand eine stetig anwachsende Kommunikation mit Inhalten auf verschiedensten Ebenen.

Interior

Ein Bild jedoch forderte meine Aufmerksamkeit in besonderen Maße, ein kleines stilllebenhaftes Interieur. Es handelt sich um das Bild Interior (Interieur), in manchen Publikationen wird es auch Window (Fenster) genannt.

Es ist 50 cm hoch und gut 32 cm breit. Obwohl deutlich als Interieur erkennbar, enthält das Bild keine Raumkennung wie Winkel oder Kanten. In mittlerer Raumtiefe sehen wir ein quadratisches Fenster, welches prominent Fläche einnimmt und mit der oberen Bildkante abschließt. Unter dem Fenster ist ein Tuch zu sehen, rechts neben dem Tuch lehnt ein schwarzer Regenschirm an der Wand. Unter dem Tuch befindet sich eine Lichtfläche.

Das Fenster ist in neun Segmente unterteilt, von denen die drei oberen als opake, blinde Flächen gemalt sind, in denen keine Außendarstellung stattfindet. Ihr mitteltonig gehaltener Lichtwert stellt eine Verbindung zum dunklen Innenraum dar. Die sechs unteren Felder umfassen die eigentliche Licht – und Außendarstellung und verbleiben formal als Quermaß.

Hier hielt mein Blick intensiv inne. Ich bemerkte eine Besonderheit, die der ansonsten reduzierten Formgebung widersprach: in den Ecken des Lichtfensters hatte Picasso wiederum dunkle Ecken gemalt. Ich erkannte, dass hier mit sparsamen Maßnahmen das Fenster gleichzeitig als Darstellung einer umgekehrten Leinwand angelegt wurde. Die Ecken sind für die Darstellung des Fensters irrelevant und stellen Verstärkung oder Spannkeile eines Leinwandkreuzes dar.

Ich sah an dieser Stelle: das Fenster ist ein Bild!

Vexierhaft nehmen Leinwand- und Fenster einander in Darstellungspflicht und behaupten wechselseitig Deutungshoheit: das Fenster – sowie das ganze Bild – eröffnet bei genauerem Hinsehen eine rätselhaftes Doppelexistenz.

Diese aufregende Entdeckung war nach meiner Rückkehr Auftakt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Bild, die bald weitere Entdeckungen nach sich zog. Ich stieß auf die Themenverknüpfung Fenster / Bild / Rahmen – in späteren Phasen in Picassos Werk auch Spiegel. Ich nahm die ganze Serie von Fensterbildern des Frühwerks in Augenschein, die schwerpunktmäßig in den Jahren 1899 bis 1900 entstand, sowie Bilder und Zeichnungen ab 1894 bis 1903.

Man kann unterscheidend sagen, dass die Fensterbilder des Frühwerks sich zum einen mit dem Motivkomplex der „Bettlägrigen“ beschäftigt, die im Zusammenhang mit Picassos frühen Erfolgsbild Wissenschaft und Nächstenliebe von 1897 stehen. Auf diese Motivserie werde ich später zurückkommen.

Eine andere Serie von Bildern und Zeichnungen beschäftigt sich in selbstbezüglicher Reflektion mit Malerei und der Bedeutung des Bildes.

Zu dieser Serie gehören zentral, neben der eingangs beschriebenen Kernentdeckung, die beiden Bilder Window with curtain from the interior (Fenster mit Vorhang / Innenraum) und Closed balkcony (Geschlossener Balkon), beide von 1899.

Window with curtain from the interior
Closed balcony   

Die drei Bilder spielen in der frühen Fensterthematik Picassos eine Schlüsselrolle. Hier nimmt das kubistische Thema seinen Anfang in der Verweigerung der bis dahin gültigen Bildauffassung, die einem Malereiverständnis der Renaissance entstammt.

Der wichtigste theoretische Vertreter dieser Bildkonzeption, der Architekt, Kunsttheoretiker und Schriftsteller Leon Battista Alberti, fasste 1435/36 in seinem berühmten Traktat De Pictura zusammen, was er als Herangehensweise an Perspektive und Wahrnehmung damals neu eröffnete.

Im Mittelpunkt stehen dabei die Abbildfunktion des Bildes und die Regeln, nach denen das dreidimensionale Sujet in quasi wissenschaftlicher Vorgehensweise auf die zweidimensionale Bildfläche übertragen wird.

Alberti empfiehlt hierzu eine initiale Strategie für den Malakt, er schreibt: „Vorerst beschreibe ich auf die Bildfläche ein rechtwinkeliges Viereck von beliebiger Größe, welches ich mir wie ein geöffnetes Fenster vorstelle, wodurch ich erblicke, was hier gemalt werden soll“. Dieser so entstandene Bild-Fenster-Terminus ist im 19. Jahrhundert für das Bildschaffen durchaus noch relevant, wenn er auch eine Transformation erfährt. Für die Realisten und Impressionisten hatte sich ein anderes Realitätsverständnis etabliert: nicht der mimetische Gehalt einer Darstellung mit der Erfassung seiner dreidimensionalen Qualität stand hier im Vordergrund, sondern eine neue Bildwürdigkeit alltäglicher Sujets, sowie Lichtstimmungen und die damit verbundene Erscheinung der Dinge. Das Bild war hier das Fenster zu einer auch als ephemer wahrgenommenen Wirklichkeit geworden.

Vor diesem hier grob umrissenen kunsthistorisch-akademischen Hintergrund entwickelt Picasso eben diese drei Bilder. Er thematisiert hier explizit das Fenstersujet. Doch weder bezieht er sich auf die Farb-Licht-Stimmung der Impressionisten, noch sind die Bilder Ausblicke auf eine Wirklichkeit außerhalb des Bildraumes.

Das Fenster wird zwar evoziert, doch nur, um ihm gleichzeitig seine Funktion als Raumerweiterung oder „Durchblick“ zu entziehen. Picasso „schließt“ das Fenster bzw. bestreitet seine Existenz. Damit schließt er auch den Bildraum und enthebt das Bild der Aufgabe, Projektionsfläche für Raumillusion zu sein.

Mit dieser radikalen Absage macht er das Fenster selbst zur Bildrealität. In der Metaphorik Albertis eröffnet somit das Bild einen Zugang zu sich selbst: das Fenster wird Fenster zum Fenster.

Der Ausblick in einen Außen-und Einblick in Innenraum – beides bleibt in diesen Bildern verschlossen. Nichts hilft dem Betrachter, Orientierung zu finden und etwa Ortsspezifika oder Größenverhältnisse zu lokalisieren. Ein „Durchblick“ auf jeder Ebene bleibt verwehrt.

Die Zurückgenommen- und Sprödheit dieser Motivik erfährt in Window with curtain from the interior zudem Zuspitzung (einmal mehr) durch ein Tuch. Es verhüllt hier den größten Teil des Fensters und gibt Tageslicht nur im oberen Drittel frei. Kürzelhaft sind darin Formen einer gegenüber liegenden Hauswand zu erkennen, deren Gestalt sich in Schattenflecken auf dem Tuch verliert, zusammen mit dem schemenhaft erkennbaren Fensterkreuz. Licht und Schatten sind großteilig gedämpft und wie eingehüllt in die Formlosigkeit des verschleiernden Tuches und erhalten hier seltsam wabernd fast dreidimensional Gestalt. Lichtträger ist eine Mauerwand im oberen Drittel des Bildes. In rätselhafter Steigerung fällt hier das stärkste Licht mit dem oberen Bildteil in eins und wird als Lichtperspektive zum eigentlich raumgebenden Element des Bildes.

Dieser vermeintliche Ausblick also, dieses „Bildfensterbild“ ohne Aussicht, schiebt sich in das Gesichtsfeld wie eine flache Hand, die starr ausgestreckt, den Zugang zur Raumtiefe verwehrt. Raumauslotung und damit verbundene Selbstverortung ist nicht möglich.

Noch rigoroser als in Interior ist der Betrachter auf sich zurückgeworfen und muss sich fragen, was er eigentlich sieht: das Bild ist ein Bild von einem Fenster, das kein Fenster ist und damit ist das Bild kein Fenster.

Picasso entbindet mit diesem kleinen Gemälde das Bild von der Bedeutung eines Fensters im Albertischen Sinn.

Zugleich „öffnet“ er auf semantischer Ebene ein „Fenster“ für die Frage nach Darstellung von Raum und erstellt damit auch ein Paradoxon: die Darstellung von Hermetik erschließt geistigen Raum.

Die Infragestellung von Perspektive ist das eigentliche Motiv des Bildes. Die Frage nach der Perspektive ist die Frage nach Realität. Sie enthält in ihrer grundlegenden Thematik auch eine existenzielle Dimension: die beklemmende Geschlossen- und Aussichtslosigkeit des Fensters beinhaltet eine spürbare Ausgeschlossenheit von einem lichterfüllten „Außen“, bzw. „Innen“. Licht und Erkenntnis sind nicht einfach so zu haben, bzw. zur Verfügung gestellt.

Die Realität, die hier „zu haben“ ist, ist das Bild selbst als ein „fruchtbares Moment“. Nicht allerdings holt, wie aus der antiken Bildhauerei bekannt, der Diskuswerfer zum Wurf aus, um im äußersten Punkt der abzuschließenden Bewegung die Initiation der Neuen zu finden.

Picasso holt gewissermaßen mit dem Fensterthema als Sujet aus, um zu einer neuen Sehweise anzusetzen. Das Bild erzählt nicht, illustriert nichts. Es setzt den Betrachter in den Stand seiner eigenen Gegenwart als Wahrnehmenden: er muss als Sehender mit dem Bild gemeinsam neu ansetzen, sich orientieren und die orientierungsgebenden Bedingungen mit einbeziehen und hinterfragen.

Er muss Dialog halten über das, was er sieht und dessen Voraussetzungen. Das Bild macht sich selbst zum Thema und stellt sich dazu unmittelbar zur Verfügung.

Daraus erwächst ein weiteres Paradox: Nicht nur erschließt sich hier durch Hermetik mentaler Raum, sondern auch eine größere Nähe zum Betrachter. Aufgefordert, sich seiner eigenen Wahrnehmungsvoraussetzungen bewusst zu werden, vollzieht er gewissermaßen die Fragestellung mit dem Bild gemeinsam. Nicht eine fremde Realität wird ihm im Fenster eröffnet, sondern die eigene, gegenwärtige des Betrachters fällt mit dem des Bildes in eins.

Picasso holt damit den Betrachter in seine eigene geistige Gegenwart: „Das Bild als Fenster“ nach Alberti gilt offenbar für sein Realitätsverständnis nicht mehr, er setzt es ab, entthront es wie einen König, dessen Zeit gekommen ist.

Ein paar Jahre später findet er in Paris in den Bildern Paul Cezannes, aber auch in der populär werdenden Neuentdeckung asiatischer Darstellungen eine Bildwirklichkeit, Perspektive und Formensprache vor, die ihn zu einem ganz neuen Raum-und Bildverständnis führt, zum Kubismus.

Er vollzieht damit mehr und mehr, womit er in diesem kleinen Bild von 1899 ansetzt: die Aufhebung der Renaissance-Perspektive als „Schlüssellochprinzip“, das Maler und Betrachter auf einen gemeinsamen fixen Standpunkt und Bildfokus festlegt. Nicht mehr Perspektive in etwas gemeinsam Erblicktes, sondern Gemeinsamkeit in der Frage nach dem Dargestellten werden zunehmend Grundlage des Sehaktes.

Er befreit das Bild von der eher passiven Statik als „erzählende Projektionsfläche“ und trägt initiierend dazu bei, dass es sich emanzipiert zu einem „Gegenüber“ mit quasi Autonomiestatus und Eigenleben.

Einem Gegenüber, mit dem man jederzeit einen Dialog aufnehmen kann, und dass die eigenen Entstehungsbedingungen in diesen Dialog mit einbringt.

Ein gutes Bild ist ein Bild, mit dem man unbegrenzt kommunizieren kann. Die Vielschichtigkeit und geistige Komplexität, mit der ein Bild dem Betrachter gegenüber steht, macht bis heute sein Autonomiestatus aus.

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