DIE LIEBESINSEL

 

 

Als ich nach Lichtenberg kam, war ich schon auf Reisen. Die vorletzte Station war wahrhaft schmerzlich gewesen und wurde durch die Freundschaftsliebe besser: Sie führte mich zu dem neuen Licht auf dem Berg, einem Künstlerstudio, einem Stipendium. Wie aufregend das war, konnte ich morgens direkt aus dem Bett sehen: Ein flammend – orangener Sonnenaufgang rief mir Verheißung und Aussicht zu, neue Verhältnisse waren wahrhaft in Sichtweite. Das hatte ich nämlich lange nicht erlebt, dass mein Schlafplatz der Natur so verbunden war – der 4. Stock brachte mich dem Himmel und seiner Wandlungsfähigkeit näher.

Zu dem Aufenthalt in Lichtenberg gehörte die Erkundung… der Umgebung, des Ortes. Er wollte und sollte gewürdigt werden, der Ort, der Bezirk, ich empfand das als richtig.

Wer bist du denn nun, du Ort. Umfängst du die Menschen oder umfangen sie dich. Was macht denn einen Ort aus? Deine Menschen, dein Klima, Atmosphäre, Energie? Bauten, Ereignisse… was ist des sehens und fühlens würdig?

Eine gute Frage, die jede_r nur sich selbst beantworten kann. Die größte Sehenswürdigkeit ist die, zu der wir uns hingezogen fühlen. Die nach uns ruft. Das ist die, die mit unserer Seele in Einklang steht und uns etwas erzählen will.

Ich fühlte mich zur Liebesinsel hingezogen. Sie liegt mitten in der Rummelsburger Bucht. Und ganz ehrlich, der Name der Bucht ist fürchterlich. Sie erinnert mich unverzüglich an Rummel, Kirmes und Getöse, also an nichts, was mit Weite, Wasser und Wohlgefühl in Einklang steht – nicht für mich. Doch ich wusste ja, es handelt sich offiziell um eine Bucht, also um ein schönes Wasser mit Promenade und allem, was das Herz begehrt, also lasse ich mich nicht abschrecken von dem Herrn Rummel, der einst mit seinem Wirtshaus und seinem Namen diesem Ort dessen verbales Gesicht gab. Herr Rummel, my ass, mit anderen Worten, für mich bist du Klein-Venedig, du schönes Ufer, punktum. Allerdings war Venedig ja auch seit seiner Entstehung dem Rummel mächtig zugetan, ich habe das nie verstanden. Die Schönheit geteilt durch den Rummel. Oder der Rummel ist der Schönheit abträglich. Eine Gleichung, die das Ungleiche betont, gewissermaßen.

Also…lass mich deine Insel entdecken, ist sie auch schön? Kann ich die Liebe sehen dort, vor Ort?

Lustig war die Zonendichte, die ich durchquerte, bevor ich ans Wasser gelang. Dichte von unterschiedlichen Behaglichkeitszonen, sozusagen. Von meinem wahrhaft beschaulich-schönen und liebgewonnenen Mini-Paris Tuchollaplatz in Viktoriastadt lenkte ich meine Schritte Richtung Bucht, unterwanderte Bahngleise, zwei Stück, überquerte eine Art Stadtautobahn, vorbei an wahnwitziger und angegrauter postmoderner Architektur – Fenster als Romben ins Mauerwerk eingelassen – streifte ein kleines Wohngebiet im gesichtlosen Nullachtfünfzehn-Stil und dann endlich waren die ersten Möwen zu sehen, die Boten jeglicher See.

Da ich dies alles im Dezember 2020 erlebe, laufen recht viele Menschen am Ufer herum, alle tragen eine Maske und sie haben sehr viel Freizeit, weil eine Pandemie auf der ganzen Welt eine große Stopptaste gedrückt hat und alle nun anders leben als jemals zuvor in ihrem Leben.

Ach du meine Güte. MASKE. Schon wieder ein venezianisches Korrelat, das mir mitten in der sich entfaltenden Mikroerzählung auffällt. Ein leicht verrutschter und unvergnüglicher, dennoch nicht zu übersehender Bezug zum CARNE, dem Fleisch, dem man im venezianischen Karneval, eben mit verrucht-geheimnisvollen Masken angetan, so gerne festlich frönte.

Heuer und hier jedoch ist der Grund des Maskentragens ein gesundheitlicher und gar nicht mit Schönheit verbunden, gleichwohl dem Fleischgenuss entstammend. Doch ganz eigentlich geht es gar nicht um Fleischgenuss, sondern um die entsetzliche Lieblosigkeit, mit der Tiere leben und sterben müssen, um den Menschen zum Verzehr zu gereichen. Die Lieblosigkeit liegt auch in der abstrakten Maßlosigkeit der Vermassung, die kein zärtliches Gefühl mehr kennt.

Noch ist es so, dass recht viele die Ignoranz favorisieren, um sich der Lage gewachsen zu fühlen. Sie tun alles wie zuvor, doch mit Maske und erzwungener Individualdistanz. Sobald aber sie im freien Feld sind, tummeln sie sich ungerührt in gewohnt distanzloser Manier und Unverfrorenheit. Doch nicht alle. Einige bis sogar mehrere sind feinfühliger, respektvoller. Sie achten den Raum der einzelnen, sie sind sich der liebevollen Möglichkeiten bewusst, die diese globale Lebenssituation bereithält. Sie werden auf Dauer den anderen zeigen, was wichtig ist.

Ich genieße das Panorama der Bucht… the bigger picture, so to speak. Den Glanz des Spätnachmittagslichts auf dem Wasser, den verhaltenen Ruf der Möwen und das Wiegen der vertäuten Boote und Schiffe. Ein bischen hält sie den Atem an, die Bucht, hat denselben abgeflacht, spürbar. Sie freut sich mit den Menschen darauf, wieder aus voller Lunge ihre Gesundheit zu lieben, dann, wenn alles vorbei ist mit der Ungemütlichkeit.

Ich mache ein paar Bilder mit meinem Telefon. Ich umrunde die Bucht, komme durch ein, zwei Wäldchen, gelange zu neuen Ufern mit Schattenwesen, die verzückt und gebannt in Lichtinseln schauen. Linkerhand erstreckt sich schmuckes Trabantenstadtgebiet, ein stummer, sich einander ähnelnder Wohlstand für alle teilt sich die Lage, schau.

Fast hätte ich meine Liebesinsel vergessen, das selbstgewählte Ziel für heute. Doch jetzt fällt es mir wieder ein, ich bin immer noch neugierig, gehe weiter. Noch ein Häfchen, bischen industrieller, auch die Gebäude, einige Bänke auf einem Platz, der den Blick auf das Wasser säumt und freigibt. Hier müsste sie eigentlich sein, die Insel, so habe ich es mir gemerkt.

Ein Pärchen sitzt auf einer der Bänke, beide wohl um die dreißig und hübsch, sie scheinen mir nach eine erfreulichen Ansprache auszusehen. Ob sie die Liebesinsel kennen würden, war meine freundliche Frage an sie, die beide ebenfalls sehr freundlich geneigt waren, zu beantworten. Sie wussten es nicht, wollten aber gerne mit Hilfe des schon in den Händen des Mannes befindlichen smartphones eine Google Suche starten, nachdem ein Blick von uns allen univideo in die Umgebung keine eindeutige Antwort ergab. Wir konnten keine rechte Insel ausmachen, nur ein Gemisch aus Booten, Schiffen, Wasser und Bäumen dahinter, von denen man nicht wusste, ob sie nicht schon zur anderen Uferseite gehörten.

Also falls es eine Liebesinsel gäbe hier, wäre sie verdeckt und eingeschlossen und damit unsichtbar.

Ich glaube, er hatte einen leicht slawischen Akzent, erst dachte ich Franzose, aber die Umlaute waren weicher in seiner Sprachlichkeit. Er nahm die Suche in die Hand, sie begleitet es mit lieben, warmen Augen, sie wollten mir beide diesen Gefallen tun und waren selbst ein bischen neugierig.

Ich spürte, dass sich es hier um ein echtes Liebespaar handelte. Sie kannten sich schon ein bischen länger, waren sich etwas vertraut, doch noch immer überrascht von dem Wunder, sich getroffen zu haben und sich zu lieben. Das schwang alles mit, während sie suchten und sprachen und sie machten kein Aufhebens davon. Es war keine Liebe, die sich zur Schau stellt, sie war einfach da und wurde warm in Empfang genommen von beiden und auch weitergegeben, wie ich im Gespräch mit ihnen als Liebenswürdigkeit spürte.

Ja, hier ist sie! Direkt neben uns, sagte der Mann, und wir schauten uns gemeinsam um, leicht nach rechts, zum Wasser. Tatsächlich, die eine, dichtere Baumreihe weiter hinter den Schiffen war die Liebesinsel. Etwas enttäuscht waren wir alle, dass sie nicht eindrucksvoller und eigentlich gar nicht zu sehen war. Doch ob ihrer Lokalisierung waren wir zufrieden mit unserem kleinen Projekt.

Oh, lieben Dank, da weiss ich Bescheid rief ich fröhlich, dann gehe ich weiter, einen schönen Tag euch noch! Das wünschten sie mir auch und ich entfernte mich von ihnen. Nun, da ich mein Ziel erreicht hatte, wusste ich erst nicht wohin, tigerte ein paar Minuten umher, dann beschloss ich umzukehren, wieder zurück, nach Hause. Mal sehen, wie der Weg rückwärts aussieht.

Da sich alles seitenverkehrt wiederholte an festen Bezugspunkten, war mir der Weg nun vertrauter, Trabantstadt rechts, die Schattenmenschen waren auch noch da und nun links. Die Häfchen, die Wäldchen, die Möwen. Wenn man den Weg vermeintlich kennt, fällt vieles leichter, man kann einfach gehen und neuen Inspirationen in sich Raum geben.

Mir wurde Schritt für Schritt klar, dass die Enttäuschung mit der Liebesinsel eigentlich etwas viel Größeres freilegte: Dass die Liebesinsel immer da ist, wo die Liebe ist.

Sie ist in uns, sobald wir sie in uns fließen lassen. Sie war ganz klar bei dem Pärchen auf der Bank und sie ist in den Lichtenberg Studios, die für zwei Wochen mein Zuhause sind. Sie ist dort, weil sie mich an diesem Ort aufgefangen und beehrt hat.

Sie ist auch dort, weil es ein aus der Liebe zur Kunst entstandener Ort und Raum ist, der intelligent und mit gelassener Waterkant-Eleganz geführt wird. Es wurde sogar schon einmal um den Ort gekämpft, da wurde allen klar, dass er sehr geliebt und geschätzt wird, der Raum über dem schönen Stadtmuseum.

Ja, jetzt wusste ich um die wahre Sehenswürdigkeit der Liebesinsel… sie war eine poetische Wiederentdeckung mit völlig neuem Antlitz. Mitten in Lichtenberg. Überall. Mitten in mir.