ZEIT IST EIN ORT, EIN PLATZ

 

 

Es ist gar nicht mal so vielen Menschen möglich, Zeit als Raum wahrzunehmen. Den meisten Tieren hingegen schon.

Gestern zog ich einmal mehr um. Ein kleines, fahrradgestützes Unterfangen mit leichterem Gepäck von Mitte nach Charlottenburg, Berlin.

Magisch begleitet von der Musik liebster Freunde fuhr ich dem Sonnuntergang entgegen, alone again, not alone, naturally... Es war ein atemberaubend schöner trip, voller freundlicher Lächeln aller Entgegenkommenden, und überhaupt einer großzügigen Weite im Herzen des gesamten Raumes um mich her. Mildes Abendlicht funkelte allerorts und allenthalben, auf der Spree, im Glas und auf allen Flächen, die das Zeug dazu hatten. Wie zum Beispiel auf der Alufläche der großen, flachen Kartonhülle unter dem Arm des Passanten am Ende der Straße, auf der ich fuhr; ein kurzer Schwenk seines Armes warf mir ein knappes Lichtfeld entgegen.

Das Aluviereck überquerte mit ihm und einer kleinen, losen Gruppe von Menschen meinen Weg, von links entlang kommend auf der Straße, auf die ich gleich nach rechts einbiegen würde, Richtung Hauptbahnhof. Sie, die silberne Fläche und er, der sie unter dem Arm trug, erklommen flott die Brückenanhöhe, die über einen Seitenarm der Spree führt, einem mir unbekannten Ziel entgegen. Meines wusste er auch nicht, und doch trafen sich sein zügiges Gehen und mein verlangsamtes Radeln genau auf dem Zenit der Brücke, um ein paar Meter gemeinsam zu verbringen. Ein im Zeit-Raum-Gefüge bedeutsamer Moment entstand, wie immer unscheinbar anmutend.

Auch wir lächelten uns an und durch den sound meiner Kopfhörer rief ich fröhlich: „Was ist denn in der Hülle?“

Ich war wirklich gespannt, was es sein könnte, zwischen Kunst und Werbeplakat kam ja alles mögliche in Frage und seine langen Haare, sowie saloppe, schwarze Kleidung schlossen eine Künstlerexistenz weder ein noch aus.

„Nichts!“ entgegenete er mit freundlicher Offenheit. „Oh, eine leere Hülle trägst du!“ erwiderte ich lachend - „Ja!“ war seine ebenso fröhliche Antwort. Und da war ich auch schon an ihm vorbei, mit einem nickendem Abschiedsgruß inklusive, den er zurückgab. Was für eine wunderbare, philosophische Begegnung.