FRAGILITÄT UND BESCHÜTZTHEIT

Die kleine Reise. Für Jaco

 

 

Gestern traf ich eine Heuschrecke. Sie war eine wahrlich ansehnliche Vertreterin ihrer ihr nicht bekannten Gattung. Und im Gegensatz zum Baum, unter dessen Schatten sie den vor mir liegenden Gehweg dabei war, zu überqueren, war sie natürlich klein... doch im Angesicht meiner Vorstellung und Kenntnis von Heuschrecken war sie ziemlich groß und sie wirkte, als ob sie mir mit diesen disproportionalen Verhältnissen etwas mitteilen wollte. Genauer: sie verhielt sich auch sonst ungewöhnlich und das rief einige Leute auf den Plan.

Aber, der Reihe nach: Ich radelte in Richtung Supermarkt in einer ziemlich parisähnlichen Gegend von Berlin. Ich mag sie sehr, la Gegend, auch wenn viele sie des Snobtums bezichtigen. Ich kann das nur begrenzt bestätigen, denn hier sind auch sehr feinfühlige Begegnungen möglich, wenn auch oft unerwartet. Ich radelte – man möge es mir nachsehen, alles hat 1 guten Grund – auf dem Gehweg der linken Seite dem neuerdings dezent in die Häuserzeile eingebetteten, nach längerer Umbauzeit frisch erstarkten Lebensmittelparadies entgegen und hielt wohl gerade meinen Blick auf den Grund gerichtet. Denn ich sah sie, die grasgrüne 'Schreck unmitttelbar und auch, dass sie, wenn sie so weitermachte mit ihrer Überquerung, wohl recht unbeschützt den herannahenden Boulevardisten ausgesetzt wäre, ich hielt an.

Stellte mein Fahrrad ab und schaute mich um. Ich war schon 1 Meter weiter als dieses außerordentliche Wesen, ging zurück zu ihr, beugte mich herunter und staunte sie an. Sie verhielt sich wie eine kleine Löwin des Gehwegs, stakste unbeirrt und sich selbst vertrauend quer über den Bürgersteig in ihrer ganzen, radikal-grazilen Körperlichkeit. Ihre angewinkelten, großen Hinterbeine umfingen sie wie ein Schutzkäfig und waren gleichzeitig Teil einer geheimnisvollen Fortbewegungsdynamik, die in all ihrer krassen sechs-Beinchen-Koordiniertheit nicht nur absolut faszinierend war, sondern sie auch schnell voranbrachte. Noch im Bann ihrer Erscheinung schaute ich mich um und sah den lockeren Schrittes herannahenden Jogger.

Eine Heuschrecke! rief ich, und wollte eigentlich sagen: Vorsicht! Ich weiss grad' nicht, muss ich dieses Wesen beschützen? Sehen Sie sie? Sie ist toll, nicht wahr? Und ich mache mir etwas Sorgen. Wenn Sie weiterlaufen, kreuzen sich vielleicht Ihre Wege – was passiert dann?

Zu meiner angenehmen Überraschung hielt der Laufende behutsam an und – freute sich mit: Oh, wirklich?! Wie auf dem Schulhof beugten wir uns gemeinsam über die zackig Vorankommende, uns austauschend über das, was wir sahen. Ich muss sie aufnehmen, sagte ich, mein Smartphone aus meiner Umhängetasche holend. Oh, ja, ich auch, antwortete er. Ich weiß nicht, wie er es schaffte seiner sparsamen Sportkleidung ein Mobilgerät zu entnehmen, aber er tat es. Ich erfuhr, dass er sich seit einiger Zeit der Insektenkunde widmete und ihm Fotos vor allem der Bestimmung und Einordnung, also des Kennenlernens dienten. Gemeinsam wunderten wir uns, dass die Schreck nicht hüpfte, sondern einfach voranschritt, und zwar immer noch zügig. Wir also hinterher mit unseren phones, mit ihr die Hauswand hoch und entlang, da kamen noch die beiden kleinen Mädchen dazu, um sich ebenfalls zu entzücken, als sie sahen, wen wir da im Visier hatten. Offenes, mutmaßendes Geplauder unter uns allen, wieso, weshalb dieses Geschöpf nicht tat, was ihr Markenzeichen war: Springen. Ganz im Gegenteil schien sie sich äußerst wohl zu fühlen, hielt nämlich just an in unserem Halbkreis und putzte sich ausgiebig die Beinchen. Hübsch sah das aus, ihre saftigen Grün- und rötlichen Gelbtöne in motion auf der wackergrauen Berliner Hausfassade.

Aufgeregt debattierten die Mädchen mit uns über den Sinn oder Unsinn, sie zurück auf eine Grasfläche zu setzen, ich riet ab. Ich spürte, dass es nun mal gerade der Wunsch des großen Grashüpfers war, zu flanieren und davon sollen wir ihn nicht abhalten, sprach ich und der freundliche Jogger unterstützte dies bekräftigend. Sein Gesicht hatte die wachen Züge eines Kindgebliebenen, es war ein großen Glück, dass wir uns alle trafen im Zeit- und Raumgefüge an einem warmen Sommerabend in der deutschen Hauptstadt. Freundlich verabschiedeten wir uns alle voneinander und ich rief einmal mehr bewundernd wow!, als ich sah, wie eins der Mädchen gekonnt ein Rad schlug im weitergehen und -springen und -sich entfernen. Stolz blickte sie sich um, wir winkten uns ein letztes Mal. Mr. oder Ms. Heuschreck war immer noch auf Schulterhöhe an der Hauswand, sich putzend, und als ich mich zuwandte, setzte es in aller Ruhe seinen Weg fort. Ich lass dich mal, sprach ich in Gedanken mit ihmchen, alles Liebe dir, ich geh' jetzt einkaufen. Ich werde dich nicht vergessen.