DIE KLEINE SONNE

hier encore

 

 

Vor Jahren besuchte ich einen Freund. Vor Jahren besuchte ich einen Freund in seinem Landhaus und wir hatten einen wunderbaren Abend. Einen wunderbaren Abend hatten wir und ich glaube, das war der Abend, als ich diese wunderbare Musik entdeckte, auf der Hinfahrt im Radio. Im Radio, und da geht es um Wiederholungen und das war aber live. Live und lebendig, und wir tanzten nicht, doch beschwingt waren wir, redeten viel, totally swing und lustig, et c'etait ca, rien de plus.

Am nächsten Tag frühstückten wir unter dem Freundschaftsbaum und hatten Lust auf einen Ausflug und da fuhren wir zu dem Badesee und da waren wir. Unter der Sonne diesmal, doch keiner bemerkte sie, sondern sie aßen des frites, die anderen, schmatzten mit den Wellen des Sees um die Wette, glitzernd war nur der See: Leichten Vögeln gleich ließen sich kleine Funken auf dem Wasser nieder, tanzten unbeherrscht und zart, gehoben und gehalten in einem unsichtbaren Rhythmus, die Ewigkeit feiernd. Ruder stießen mit dumpfem Laut an Holz zeitgleich, verhaltenes Lachen und Reden all over the place, flache Plastikscheiben flirrten durch die Luft, fang' sie, Freizeitsport am Sandstrand, gefasst von dunklen Kiefern, die in unbeirrter, dunkler Schönheit das Geschehen ringsum säumten.

Ich blinzelte in die Sonne, wie immer nach mehr fragend, doch gleichzeitig das Jetzt genießend, auch wie immer. Und da war sie auf einmal: DIE ZWEITE SONNE.

Ich konnte es erst nicht glauben, und wenn ich mir nicht im Laufe der Zeit angewöhnt hätte, meiner Wahrnehmung zu vertrauen durch so manche Verstörung hindurch, hätte ich mein Sehen glatterdings verworfen - doch es war wahr! Ein paar Meter entfernt, ein paar Meter in gerader Linie entfernt - war eine zweite Sonne! Ein Lichtphänomen, etwas kleiner als die mir bekannte Sonne und leicht gesäumt von einem schillerndem Farbkranz. Strahlend, gleißend, eigentümlich und eine eigene Identität behauptend. Ich war so verzückt, wie überrascht und als ich meinen Blick wieder in die Umgebung lenkte, musste ich feststellen, dass ich völlig alleine mit meiner Entdeckung war. Alles gab sich entspannt und träge den jeweiligen Vergnügungen hin und wirklich niemand schaute nach oben oder zum Horizont.

Ich saugte meinen Blick wieder an der Erscheinung fest und sie war noch da, die zweite Sonne, in aller stolzen Selbstgenügsamkeit hatte sie sich eingefunden, wer weiß, wann, und wer weiß, für wie lange. Ich wusste sofort, dass es sich um ein Wunder handelte und war in einer Weise aufgeregt, gebannt und sprachlos, dass es ein paar Jahre brauchte, um das Erleben nun, jetzt, in größtmöglicher Umfänglichkeit aufzuschreiben.

Ich entschied, meinem Begleiter darauf aufmerksam zu machen, schau mal, sagte ich, was ist das denn!? Oh, ja, merkwürdig, wunderte auch er sich, doch sein ohnehin stiller Charakter – Persona, könnte man auch sagen - ließ ihn nicht viele Worte machen. Irgendwie einverstanden war er damit, so ist auch seine Seele angelegt, einverstanden zu sein, ohne allzu viel zu hinterfragen, zumindest nicht die wundersamen Dingen des Universums. In dem, was Menschen anrichten, kann er durchaus zur Revolte auffahren, doch, was die Natur anbelangt, war er schon immer von stillem, vergnügtem Phlegma. So ließ er das Wunder in seiner Wahrnehmung verstreichen, nachdem er ein paar Mal in die die zweite Sonne blinzelte. Vielleicht ist dies das eigentliche Unvermögen im Leben, dass wir nicht recht wissen, was wir mit dem Außerordentlichen machen sollen. Es genießen? Einfach da sein lassen? Ein Tänzchen wagen?

Mitnehmen wollte ich es, und so machte ich ein paar Fotos mit meinem smartphone. Doch der Stand der eigentlich rasant fortschreitenden Hochauflösungsentwicklung war zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit gediehen, so dass die - abgewandelte - Max Goldt'sche Maxime „das Ereignis verdorrt in der (Foto)Linse“ sich denn auch unweigerlich vollzog; Magie war hier nicht wirklich festzuhalten.

Doch die Intensität dieser zweiten Natur war so stark und auffordernd, dass sie ab diesem Erlebnis eine stille und subtile Begleiterin in allem war, was ich tat, sah und fühlte. Ich wusste, dass sich hier eine stumme, geheimnisvolle Offenbarung ereignete, mich immer wieder sanft leitend bei dem, was Wirklichkeit bedeutet.

Sie, die andere Sonne, die andere Natur, ist eine Hinweiserin geworden auf Identität und das Phänomen der Ähnlichkeit. So, wie ein Berg, in der Schweiz etwa, nicht der Gleiche ist, wenn sich die Sonne hinter Wolken verbirgt. Wenn sich Abermillionen Licht – und Schattenvorkommnisse an steinernen Felsvorsprüngen neu einrichten in einer bislang unbekannten Formation und dem Riesen ein völlig neues Antlitz bescheren. Tief oberflächlich ein Huschen und Gleiten von Licht und Schatten, welches die Materie formt, wenn auch nur für Minuten oder Sekunden.

Oder so, wie auf dem screen meines laptops Bilder von Landschaften aus aller Welt eingespielt werden, in unregelmäßigem Rhythmus: Seen, Berge, Gärten, Palmen, Wälder, Ozeane, Felsen, Winter, Sommer, Japan, Wuppertal. Und auf einmal eine Seeansicht, die leicht verrutscht, anders aussieht. Irgendetwas stimmt mit dem Licht da nicht, obwohl alles an seinem Platz ist, das Glitzern des Lichts auf dem Wasser und den umliegenden Baumblättern. Das Ruderboot mit dem Pärchen auf der Mitte des Sees, die satten Grün- und Erdtöne, die alles chromatisieren, ganz klar das Licht eines Sonnentages hinter Wolken. Und doch, etwas stimmt nicht, ist einen feinen Grat entfernt von dem was ich Wirklichkeit nenne. Und da sehe ich es: Es ist ein Gemälde. Aus dem vorletzten Jahhundert gar. Der Maler hatte die brandneue Stimmung eines Tages eingefangen, in deliziöser Täuschung wiedergegeben, abgebildet, nacherschaffen. Und hier landete sie nun als Abbildung der Abbildung mir vor die Augen und ich traute ihnen erst nicht, zu Recht eben. Es war dieser leichte kleine move, dieser feine Grat, der das eine vom anderen unterschied, doch doch dem Eigentlichen verdammt und brilliant ähnlich war, irgendwie aufregend und enttäuschend zugleich.

Es gibt viele solche Ähnlichkeiten, sie betreffen auch unsere Beziehungen und unsere Identität. Sich selbst nur um einen Hauch nicht selbst ähnlich sein, diese feine Abweichung kann Jahrzehnte, wenn nicht ein ganzes Leben lang, genauso gelebt werden. Es ist wie ein fein gewebtes Kleidungsstück, wie eine Gaze, eine Energie, die umgibt, aber nicht identisch ist. Und die wird getragen, ohne zu tragen, eher ertragen.

Doch auch stimmt, dass die vermeintlich erste Natur manchmal die Täuschung ist, täuschend echt ist. So, wie Menschen, die von sich behaupten, sozial zu sein, auch in vielem so handeln, aber deren Kern eiskalt und unfreundlich ist. Zum Beispiel. Und dann ist die kleine Sonne die echte, weil es die ist, die wir exklusiv sehen können. Das muss nicht beglaubigt werden von außen, muss es nicht, wirklich. Wir merken es daran, dass wir im Licht der Wahrheit entspannen, wir uns wohl fühlen, mit uns übereinstimmen, leuchten, und sei es auch nur ein kleines bisschen. Dann ist es die echte Sonne. Denn das kleine Strahlen ist immer noch ein Strahlen, so wie die Sonne hinter den Wolken immer noch die Sonne ist.