DIE FRAUEN (Neubewertung des Alleinseins, keine Verschwommenheit)

 

 

Och nö, warum denn nicht asiatisch direkt jetzt, vietnamesisch am besten. Ich habe gar keine Lust zu kochen, dauert einfach zu lange. Noch in den Supermarkt, einkaufen, Kassenschlange um die Zeit ist endlos und dann nach Hause und eben – kochen. Bis dahin bin ich verhungert.
Oh schön, Wendung … Vorhaben „Gemütlicher Abend & kochen zu Hause“ – gecanceled. Leichte Feierstimmung, unter anderen Menschen alleine dinieren – köstlich.

Also leichter Tritt in die Pedale und Richtung Rosenthaler Platz, so beschwingt es geht mit dem reduzierten Tross – ich, mein Fahrrad und ich selbst. Angekommen, das Pferd angeschirrt, leichtfüßig in die beste vietnamesische Garküche am Platz… und – wer sagt’s denn – genau ein Fensterplatz mit Rücken zur Wand ist frei, Hurra! Flugs hingesetzt, Tageskarte in Augenschein genommen, das Curry ist genehm, ganz wunderbar sogar, nehm ich, mit einem Chardonnay, on the Rocks, bitte.

Erst dann werde ich den Tisch direkt vor mir gewahr. Lautlich vor allem. Eine Gruppe von Männern, die sich schallend und unter bemerkenswerter Absenz von Charme etwas erzählt. Der links außen, mit einem recht schmucken, cyan-blauen Sweater trägt eine ältere Bundeswehrgeschichte aus seiner Männervergangenheit vor, die auch irgendetwas mit DDR-Verhör und sonstiger Gefahr zu tun hat, eine Heldengeschichte offensichtlich, aber von ihm freiwillig verkürzt auf Faschingsniveau. Er erzählt sie in die siebenköpfige Gruppe hinein, taktet sein Gesagtes mit durchschaubaren Reaktionspausen - und es lachen fünf zurück.

Erst da sehe ich, dass noch zwei Frauen mit am Tisch sitzen. Sie lachen weder, als dass sie es nicht tun. Sie sind da, weder dass sie abwesend sind. Das alles passiert meiner aufmerksamen Gegenwart, als ich dieselbe, die andere, schon verabscheue und flugs die vorbeieilende Kellnerin mit einem frisch ankommenden Einzelgast UND einem frei werdenden Tisch in einer Weise zu verknüpfen weiss, die mir Distanz zur Reckenrunde und ein Aufatmen beschert. Mein neuer Tisch ist toll - besonders mit meiner bezaubernden Playlist, die mich schützt, mittels der rasch aufgesetzten Kopfhörer, auf „Zufall“ gestellt.

Und er bereitet mir auch eine veränderte Perspektive auf den Heldentisch und die beiden Frauen, die diesem beiwohnen, sie sitzen jetzt schräg gegenüber und haben Gesicht. Nehmen wir an, die Welt bestünde aus höchst signifankanten, energetischen Wesenheiten (und das tut sie, aber ich setze es in den Konjunktiv, damit eine Brücke bleibt zu dem was nicht ist). Man könnte sie auch Seelen nennen. Also wenn die Welt aus energetisch signifikanten Identitäten bestünde. Aus geheimnisvollen, feinfühligen, leidenschaftlichen, unerschöpflichen, anmutigen, verbundenen, abgrenzungsbereiten, selbstbewussten, lieblichen, wehrhaften, hingebungsvollen, charismatischen, wohlwollenden, kämpferischen, empfangenden und empfänglichen, erobernden, erfinderischen, transzendenten, träumerischen, tänzerischen, jegliche Grausamkeit verabscheuenden, hervorbringenden, zärtlichen, ewigen, kurz gesagt – liebenden – Wesen beschaffen sei. Dann also wäre dieser Nebentisch ein Ort der Freude. Der Freunde wohl auch. Einer, an dem sich die Umherseienden unterhielten, reizend begegneten, sich berührten, neckten, Freude bereitend und empfangend, am Tisch, im Raum, hierinnen, daraußen und überall.

Nicht dass es an den anderen Tischen jemand interessierte. Vielmehr habe ich es unvermeidbar allein gespürt, was an diesem Tisch mit der Liebe los war. Nämlich, dass sie nicht da war. Oder dass sie sich versteckte. Hinter den Rücken der Recken. Oder unter den Achseln der Frauen, oder in deren Beugen verschlüpfte, so dass sie es selbst nicht mehr bemerken, wie sie nicht mehr liebten und geliebt wurden. Seltsam selbstverständlich war der abwesende Blick der beiden dunkelhaarigen Frauen, die ihr Sein an diesem Abend, oder schon länger, auf eine untere Frequenz geschaltet hatten, und dabei ganz spürbar in eine gleichsam benachbarte Daseinsform ihrer selbst entwichen. In ein unsichtbares Nebenreservoir sozusagen, in welchem sie ihre Lebendigkeit nicht mitnahmen, die dann sozusagen neben ihnen zum Wiederabruf eingefroren war. Eine Überlebensmodus, der harmloser anmutete, als er war.

Die Schalllacher genauso: Bierselig staksten sie, einer um den nächsten, zur Toilette. Sie kamen gar nicht auf die Idee, ihre Frauen und wohl auch sich selbst zu fragen, ob hier jemand Vergnügen empfand. Denn mit ihrem Lachen täuschten sie mich nicht – die falschen Heldengeschichten, die Schenkelklopfer, das lähmende Lautsein zeugte von einer inneren Abspaltung, die in den müden und leblosen Gesichtszügen ihrer weiblichen Begleitung wieder lesbar wurde. Und weiterhin kein Wortwechsel, kein Dialog. Erst war ich nicht sicher, weil ihre Augen hinter starken Sehlinsen fast verschwanden. Doch ich meinte zu spüren, dass eine der Frauen meinen schweifenden Blick mit einem feinen Lächeln erwiderte. Sie erinnerte mich an meine Tante Birte, die ich immer sehr mochte, fast als einzige auf allen Familienfeiern. Vor ihrem Mann, dem Bruder meines Vaters, hatte ich immer Angst. Die lenkte mich zu der Zeit von der Angst vor meinem Vater ab.

Meinen zweiten Blick in die Runde allerdings beantwortete sie mit einem deutlichen, fast schon strahlenden Lächeln, einem wissenden, einverstandenen, gelösten Lächeln. Wir prosteten uns kurz und herzlich zu. Sie war einverstanden, dass mein Blick sie erkannte und liebevoll ertappte bei ihrer aller Maskerade. Erleichtert auch ein bisschen. Sie wusste, dass ich weiss und sie fühlte sich geborgen in meinem Erkennen. Das gab der Stimmung am Tisch eine leichte Wende. Als zwei der Herren sich verabschiedet hatten und einer etwas orientierungslos erneut die Toilette suchte, brachen die Ladies in kurzes und fröhliches Gelächter aus. Es war keine Schadenfreude ob des Umherirrenden, mehr eine Bitterkeitsschlacke, die sich löste und herausgelacht wurde, die Lebendigkeit war zurück, die Freude auch, das Nebenreservoir aufgelöst. Das Rückkehr des Toilettengängers habe ich nicht mehr abgewartet, mein Aufbruch stand an. Als ich den Nebentisch passierte, lachten wir Frauen uns offen zu und winkten, zum Abschied.