DIE ANWESENHEIT ALS ABGEWETZTER PLATZ, 1 SUNDOWNER UND ZWEI WAHNSINNS SONNENUNTERGÄNGE

 

 

Auf dem Hinweg saß da ein Pärchen. Bzw. Frau neben Mann, roter Reisekoffer daneben lose abgestellt, sie zugewandt, er nicht so. Er Sonnenbrille, sie offenes, unglückliches Gesicht. Er casual dings, Jeans, schwarze Adidas Jacke, bequem, sie schicker Hosenanzug, beige. Sie irgendwie unter Stress, leichte Augenränder, dunkle lange Haare. Er ganz relaxed, doch kühl, trotz casual dings, ergrauter Strubbelkopf. Ihr hübsches Aussehen wie hinter einem Trauerflor, der unsichtbar ihr Gesicht überlagerte. Er – sah man nicht.

Oh, nicht so ein schönes Gespräch, wie mir aus dem Augenwinkel schnell ersichtlich war. Dann kurz in den Biosupermarkt am Nordbahnhof, wo sich dieses Nebeneinander zutrug, auf Steinstufen vor der Geschäftszeile.

Und inmitten eines unglaublich schönen Sonnenuntergangs, der alles prächtig umfing: Die rasselnde Tram, diese Beiden, einige Passanten, den kleinen, schönen Platz aus hellem Sandstein - mit einigem guten Willen italienisch anmutend. Den seltsamsten S-Bahnhofs-Eingang aller Zeiten, die angrenzende Straße und den nahegelegen Park, dem man fälschlicherweise den Sonnenuntergang zurechnen könnte als „darüber“ oder „dahinter“.

Als ich mit meinen Einkäufen wieder das Draußen und eben den Platz betrat, war der Sonnenuntergang immer noch so verführerisch mit seinem brennenden Schmelz – bleib doch noch ein bisschen, lichtrauschte er in mächtigem, blau-rosa-weiss-gelb-orange-rotem Farbspiel - so dass ich beschloss, uns, ihn und diesen Moment zu feiern. Ein "sundowner" in Form eines kleinen, leichten Bier-Limonade-Gemischs sollte die party begleiten; im Bahnhofskiosk erstanden, kühl in meiner Hand liegend suchte auch ich mir einen Sitzplatz auf den Steinstufen, nicht unweit des halbtraurigen Paares, das immer noch in dem unerquicklichen Gespräch festsaß, wie mir als Melancholiewolke seitens der Lady entgegen strömte, von links. Es hatte mit Abstand den besten Blick auf den Sonnenuntergang, doch sie bemerkten ihn kaum.

Just als mein Blick unauffällig zu ihnen wanderte, stand sie auf, griff entschlossen den roten Rollkoffer und eilte gradlinig auf den Eingang des S-Bahnhofs zu. Etwas zu entschlossen, so ganz stimmte der Verve nicht, war mehr ein Schutz. Wir brauchen das manchmal, bravo also. Er schaute ihr ungerührt nach, ein recht typischer Vertreter des emotional unerreichbaren Mannes, die ganze Gestalt eine einzige Maske. Kurz bevor sie, die Lady, in dem Eingang verschwand, drehte sie sich noch einmal schüchtern in seine Richtung um, winkte mädchenhaft und scheu zu ihm hinüber - und wurde schon in ihrer eigenen Gehbewegung von dem seltsamsten aller Eingänge in Empfang genommen. Mein erneuter Blick in seine Richtung vermochte nicht mehr Gemütsbewegung auszumachen als zuvor. Vielmehr saß er unbewegt noch eine Weile auf den Stufen und versuchte tatsächlich Blickkontakt mit mir aufzunehmen, soweit es die Sonnenbrille zuließ. Nee, nee, Freundchen, so nicht, war meine telepathische Antwort, da wandte ich mich lieber wieder der Pracht des Lebens zu. Pracht, Platz, Park n' sunset, so to speak.

Als die Dämmerung langsam mehr wurde als das Licht, erhob ich mich und schlenderte zu meinem Fahrrad vor dem Biosupermarkt zur Linken. Der Unbewegte war inzwischen verschwunden und ich sah: Dort wo die Beiden gesessen hatten, war der Platz dunkler, weil leicht abgenutzt. Das heisst, dass dort öfter Menschen aus irgendeinem Grund sitzen, miteinander sprechen oder um dem Sonnenuntergang nahe zu sein – da hier ja die beste Sicht. Das ist von eigener Schönheit, dass die Anwesenheit, die Liebe zur Kommunikation – miteinander und auch mit der Natur – sich in dieser Abgewetztheit zeigt.

Ich fühlte ich mich noch an einigen, darauffolgenden Abenden zu der Magie des Sonnenuntergangs an diesem Ort hingezogen. Ich fuhr dann kurz 'rüber und sog 5 Minuten das Lichtspiel in mich ein.

Der Unbewegte saß noch ein weiteres Mal genau dort auf dem abgewetzten Platz, mit einem anderen Gesprächspartner, wir erkannten uns von weitem.

Wie einen anderen Raum betretend, fliegend im Krebsgang raus aus der Stadt, reise ich ca. eine Woche später zu einer Freundin aufs Land. Hier ist mir die Sonne vom Wesen her näher. Hier werden die Geschichten anders erzählt. Direkter, aber auch zärtlicher. Manchmal auch gar nicht gesprochen, sondern sie fließen unmittelbar in das Abendlicht hinein, so wie vorgestern, als ich auf einmal anfing zu tanzen, zu  einer Melodie, die ich nie zuvor hörte. Ich tanzte, ich schritt, ich schlenderte, ich müßigging... und wirklich keine Sekunde war wie die nächste in diesem anderen wahnsinns Sonnenuntergang bei meiner soulsister auf dem Land.